Die Christmette zum Lesen und Hören

<p>Ein Weihnachtsbild wie geschaffen für unsere Zeit: Social Distancing an der Krippe. „Bitte Abstand halten.“</p>

<p>Abstand halten geht gegen jedes menschliche Bedürfnis, gegen jeden menschlichen Instinkt. Ein Neugeborenes nackt liegen zu sehen – das löst doch den Urimpuls aus, es aufzunehmen, im Arm zu halten, es zu wärmen und zu wiegen. Stattdessen hat der Maler eine Krippenszene gemalt, bei der Jeder und Jede im Abstand zum Kind bleibt. Sicher – in anbetendem Abstand, in ehrfürchtigem Abstand, aber in sicherer Distanz zu dem Wunder der Weihnacht.</p>

<p>Maria ist eingehüllt in ein wallendes blaues Kleid. Da ist so viel Stoff, dass man gar nicht wirklich beurteilen kann, ob sie steht oder kniet. Sie ist dem Kind zugewandt, aber mit Abstand. Ihre Augen sind gesenkt und die Hände deuten an, dass sie ganz bei sich, in sich gekehrt ist.</p>

<p>Josef hat sich fast hinter einer Säule versteckt. Sein Abstand zum Kind ist noch größer als der von Maria. Er ist gut und warm gekleidet. Sein roter Mantel hat eine Art Pelzbesatz. Auch er ist dem Kind zugewandt und seine Hände formt er zu einer bittenden Geste.</p>

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<p>Hirten bringen Bewegung in dieses Andachtsbild. Fast könnte man meinen, sie wären grade erst herbeigestürzt: in ihrer Arbeitskleidung stehen sie da, als hätten sie keine Zeit mehr zum Umziehen gehabt; den Hut noch in der Hand und den Hirtenstab noch im Arm. Sie müssen sich gerade erst hingekniet haben, so deute ich ihre Körperhaltung. Der eine hat die Hände schon zum Gebet gefaltet, der neben ihm scheint gerade dabei zu sein, die Hände zu schließen. Der dritte dahinter reckt seinen Kopf, als hätte er noch gar nicht gesehen, worum es hier geht. Die Holzbalken über den Hirten gehören eher zu einem Unterstand als zu einem Haus; hinter ihnen sieht man Landschaft unter einem dämmernden Himmel. Man weiß nicht: ist es halb Nacht, halb Tag?</p>

<p>Auch hier passt das Wort „Abstand“, aber es hat noch einmal eine ganz andere Bedeutung:<br />
Die Hirten sind in der Geschichte immer die „Abständigen“ gewesen: die mit Abstand zur Gesellschaft. „Social Distancing“: die Hirten sind die, die nie ganz dazugehörten.</p>

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<p>Die Menschen, die hier auf der Weihnachtskarte zusammenstehen, würden sich – zumindest legt das ihre Kleidung nahe – niemals zu einem gemeinsamen Fest verabreden.</p>

<p>Links Menschen, die sich in edle Stoffe hüllen, und rechts Menschen, die in praktischer Arbeitskleidung lieber draußen in der Natur sind.</p>

<p>Man könnte auch andere Gegensätze sehen: Links die Kontemplativen, die Meditierenden, die in sich gekehrten; rechts die Aktiven, die Zupackenden, die aus sich heraus gehen; links die Nachdenklichen, rechts die Aktivisten.</p>

<p>Wäre nicht dieses Kind in der Mitte des Bildes – es gäbe keinen Grund, hier beieinander zu sein. Wäre nicht Christus in unserer Mitte – es gäbe keinen Grund beieinander zu sein und Weihnachten zu feiern mit all den verschiedenen Menschen hier und auf der ganzen Welt. Uns alle verbindet die himmlische Botschaft: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr“. Gott überwindet den Abstand zwischen Himmel und Erde.</p>

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<p>Die Engel, die Boten Gottes, gehören zu Weihnachten dazu.<br />
Die Schar der Engel auf diesem Krippenbild ist groß. Vierzehn habe ich gezählt, aber vielleicht habe ich auch nicht alle entdeckt. Sie sind in unterschiedlichen Farben und Kleidern abgebildet. Manche knien am Boden, andere stehen, wieder andere schwirren noch umher. Aber auch die Engel halten Abstand: Abstand von den Menschen, sogar voneinander. Sie sind da als Einzelne, in Paaren oder in kleinen Gruppen. Fast möchte man meinen sie stammen aus unterschiedlichen „häuslichen Gemeinschaften“ im Himmel. Die Engel halten, wie alle anderen, Abstand vom Kind, der einzigen Person, die keine Kleider trägt. Das fällt schon auf, gehört es doch zum Erkennungszeichen, dass die Engel den Hirten mitteilen: „Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend“.<br />
Fast scheint es mir, dass das dem Maler zu viel Abstand wäre. Gott will keinen Abstand zwischen Himmel und Erde, keinen Millimeter Abstand zu uns, nicht mal eine Windel dick... Gott kommt auf die Erde wie ein Mensch: nackt und schutzbedürftig.</p>

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<p>Weihnachten ist das Ende vom Abstand halten. Gott kommt zur Welt und überwindet den größten Abstand, den wir denken können. Weihnachten ist das Ende vom Masken tragen. Gott zeigt sich völlig entblößt und schutzlos in einem Menschenkind.</p>

<p>Da kann man nicht auf Abstand bleiben. Einmal wenigstens im Jahr sich dem aussetzen, dass Gott so nahe kommt, dass mir die Tränen kommen dürfen, und mit den Tränen all der Kummer über all das Abständige in mir und der Welt. Nehmen wir – wenigstens im übertragenen Sinne – die Masken ab und zeigen uns einander. So wie Gott sich zeigt: verletzlich und auf Liebe angewiesen.</p>

<p>Dann vergeht diese angehaltene Zeit in dieser Szene und es kommt Bewegung ins Bild. Ich stelle mir vor, wie Maria ihr Kind liebevoll aufnimmt und im Arm hält; wie Josef sich neben Maria stellt und sie zärtlich umarmt; wie die Hirten sich über das Kind beugen und es anlächeln und es ein wenig zieht im offenen Stall von Bethlehem. Denn die Engel fliegen hin und her und erfüllen den Raum mit himmlischen Klängen und Gloriagesängen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“</p>